Ein Beitrag unseres Genossen Martin Fink zum 140. Geburtstag von Franz Groedel, den am 23. Mai 1881 in Bad Nauheim geborenen Kardiologen und dessen Wirken bis heute seine bedeutenden Spuren hinterlässt.
Wie Briefe aus den USA – Groedels „erzwungenem“ Exil – zeigen, hoffte er nach dem Kriege noch sehr, Kerckhoff-Stiftung und Herzforschungs-Institut in Selbstständigkeit halten zu können. Und sein Sanatorium sollte als therapeutische Abteilung das Herzforschungs-Institut zu dem machen, was es von Anfang an sein sollte. Zur Erinnerung: William G. Kerckhoff, ein Deutsch- Amerikaner, war offensichtlich durch die wiederkehrenden Heil-Behandlungen und der badeärztlichen Betreung des ersten deutschen Kardiologen, Prof. Franz M. Groedel sowie dem damals weltbekannten Kurort Bad Nauheim, sehr angetan. Auch von dessen Plänen, ein Herzzentrum für die Erforschung der Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten von Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu gründen, bei dem sowohl Kliniker als auch Theoretiker eingebunden werden sollten. Groedel, der eine sehr rastlose Persönlichkeit gewesen sein muss, soll mehr als 300 medizinische Aufsätze geschrieben haben. Er hielt eine Professur in Frankfurt inne. Und gründete mit einem Stiftungskapital von einer Million Dollar, was Kerckhoff nach seinem Tod hinterließ, das nach dem Stifter und der Stifterin benannte Institut (1931) für kardiovaskuläre Krankheiten, ergänzt durch eine Stiftung zugunsten junger, bedürftiger deutscher Wissenschaftler. Bruno Kisch, der Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Kreislaufforschung und auch Jude, dessen Freundschaft sich mit Groedel in den USA als tiefgreifend erweisen sollte, hob anlässlich Groedels 70. Geburtstages hervor „dass die medizinisch-technische Ausstattung des Nauheimer Forschungsinstituts den modernsten Gesichtspunkten entsprach und Groedels eigene Erfindungen nutzte.“
Ein Institut für freie Forschung
Martin Schlepper, ärztlicher Direktor der Kerckhoff-Klinik von 1972 – 1992, bezeichnet Groedel (1988) als herausragenden Mensch und Arzt sowie als Wissenschaftler von internationaler kardiologischer Bedeutung. Wenn er schreibt: Groedel hat wissenschaftliche Verdienste,, die zum Fundament gehören, auf dem wir heute bauen“, dann spannt er den Bogen aus der Vergangenheit in die Gegenwart. Groedels vorzügliche physikalisch-technische Begabung, seine Faszination für die gerade erst im klinischen Bereich etablierte Röntgenologie, der scharfsinnigen methodischen und diagnostischen Arbeiten zur Festlegung der Herzgröße und der Topographie des normalen und erkrankten Herzens, sowie die zur Therapiekontrolle „müssen national und international zur Kenntnis genommen worden sein, denn wie sonst wäre es einem 28-jährigen, nicht habilitierten Dr. Groedel aus Bad Nauheim möglich gewesen, 1909 bereits den ersten ‚Atlas und Grundriss der Röntgendiagnostik in der Inneren Medizin‘ (als Standartwerk der Röntgenologie!) herauszugeben.“ Als Patient von heute profitiert Jeder nachhaltig von dem, was Groedel als Röntgenologe, als Kardiologe und Balneologe mit innovativem und didaktischen Geschick an Einsicht hat einfließen lassen in die wissenschaftsorganisatorische Ausrichtung institutioneller Strukturen.
Organisationsplan des Instituts
Es war schon eine besondere organisatorische Leistung, dass das Kerckhoff-Institut in nur zwei Jahren nach Plan gebaut werden konnte.
Im Organisationsplan des Instituts „wird die breite Fächerung klar, und die Absicht, kardiologische Forschung interdisziplinär zu betreiben. Dabei wurde auch der ärztlichen Fortbildung breiter Raum gelassen“, so Schlepper. Groedels methodisch-wissenschaftliche Überlegungen zur Erfassung und Zuordnung diagnostischer und therapeutischer Daten hinsichtlich des klinischen Befundes führte dazu, dass Groedel mit der Ausrichtung einer medizinisch-statistischen Abteilung Neuland betrat (Leiter: S. Koller von 1931 – 1940, Frau M. – P. Geppert ab 1940). Weitere Abteilungen waren: Experimentelle Pathologie und Therapie (Leitung: E. Koch 1931 – 1940; H. Schäfer, 1940 – 1951), experimentelle Balneologie und Physikodiagnostik und Physikotherapie waren unter Groedels Leitung vorgesehen; Leitung: R. Wachter 1931 – 1939). Experimentelle Strahlenbiologie (Leiter: H. Lossen, 1931 – 1938; B. Kerber, 1938 – 1939) und eine Abteilung zur Untersuchung von Versicherten (Leiter: W. Lueg, 1932 – 1935). Hinzu kamen noch feinmechanische Werkstätten.
Groedel: „Ich wollte ein Institut errichten für freie Forschung auf dem Gebiet der Cardiologie und Pysicotherapie. Und Sie können sich vorstellen, dass – was mich anbelangt – das Institut frei bleiben soll. Wenn die Max- Planck-Gesellschaft (M.P.G.) dies nicht anerkennt, dann kann – soweit ich es verhindern kann – das Kerckhoff-Institut nicht der M.P.G. angeschlossen werden“ (Schreiben Groedels an Prof. Hans Schäfer, 14.04.1950).
Ein Institut für und mit herzkranke(n) Patienten
Was Groedel an Anfeindungen und üblen Machenschaften in den Jahren 1930 bis 1932, der Phase der Bauplanung und des Aufbaus des Kerckhoff-Instituts „seitens der Regierung, gewisser Behörden und seitens einzelner Personen“ widerfuhr, machte es ihm schwer, wie er an Bürgermeister Bräutigam 1946 schrieb, „das Werk zu Ende zu führen“. Was offen blieb (und vergessen scheint), daran erinnert Grödel 1947 gegenüber dem damaligen Bürgermeister: „Als ich das Glück hatte, durch die Freigebigkeit der verstorbenen Mrs. Kerckhoff die Mittel zum Bau des Instituts zu erhalten, entschloss ich mich, dies in Bad Nauheim zu tun, und die Angebote der Universität und anderen abzulehnen, nachdem ich das Versprechen des Staates, der Stadt, der Nauheimer Ärzteschaft, und der staatlichen Versicherungsgesellschaft erhalten hatte, dass dem Institut eine gewisse Anzahl von Patienten zur Behandlung überwiesen würde. Dies Versprechen wurde später nicht eingehalten, und endlose Kämpfe waren die Folge.“
Im Hinblick auf die Errichtung einer Stiftung für Groedels Sanatorium und der Nutzung seines Wohnhauses bat er eindringlich: „Dies soll sich nicht wieder ereignen und die Kerckhoff-‘Stifung soll nun nach 18 Jahren die wichtige therapeutische Abteilung erhalten, die sie endlich zu dem Herzforschungs-Institut machen soll, das sie von Anfang an sein sollte.“
Die therapeutische Abteilung
Nachdem Groedel wegen seiner jüdischen Herkunft und drohender Verfolgung zur Emigration in die USA gezwungen war, blieb er zwar dem Stifterwunsch entsprechend Direktor des Instituts, doch vor Ort war der Physiologe Eberhard Koch kommissarisch ab 1933 als Leiter bestimmt. Ihm folgte 1940 Hans Schäfer, der diese Position bis 1951 inne hatte. Dieser schreibt (08.02.1949) – offenbar konform mit Groedel – in einer „Promemoria über die Verwendung des Sanatoriums unter ärztlicher und wissenschaftlicher Leitung des Arbeitsstabes des Kerckhoff-Instituts“:
Das Sanatorium soll einen gemeinnützigen Charakter tragen.
Es soll ein Sanatorium für Herzkranke sein: Seine Besonderheit liegt darin, dass ein Kliniker und Facharzt für Innere Medizin mit dem Theoretiker, dem Direktor des Instituts, zusammen am Krankenbett steht.
Als besondere Note gegenüber den heute üblichen Sanatorien soll hinzu kommen, dass der Patient auch eine gründliche seelische Behandlung erfährt. Zu diesem Zweck sollen regelmäßige Ausspracheabende eingerichtet werden und wenn nötig, auch die Mittel der Psychotherapie zu Hilfe gerufen werden. Da die Mehrzahl aller Herzerkrankungen mindestens psychisch verschlimmert sind, scheint eine solche Mitberücksichtigung seelischer Umstände heute besonders notwendig.
Die diagnostische Behandlung der Patienten würde mit den Mitteln des Kerckhoff-Instituts erfolgen, da dort röntgenologische wie elektrokardiographische und sonstige klinische Untersuchungsmethoden vollzählig und in hervorragender Ausstattung zur Verfügung stehen.
Die Ergebnisse der Diagnostik sollen dann dem Institut zur Verfügung stehen, so dass aus den heute auftretenden Krankheiten neue Einsichten für die Behandlung der morgen auftretenden Krankheiten gewonnen werden.
Sanatorium-Groedel-Stiftung
Ende der 40er Jahre des letzten Jahrhunderts drängte Grödel förmlich mit Verweis auf seinen Gesundheitszustand, seinem fortgeschrittenen Alter, auch das seiner Mutter, es ratsam und wünschenswert erscheinen zu lassen, „dass die endgültige Regelung sobald als möglich getroffen wird“, so in einem Brief an Bürgermeister Bräutigum am 21.05.1947.
Es kam zu zwei Terminen vor dem hiesigen Amtsgericht. Beim ersten (18.06.1948) legte die Rechtsanwältin, Frau Dr. Weiß, die Vollmacht zur Gründung einer Sanatorium-Groedel-Stiftung vor. Der Stiftunszweck sollte sein, „in Bad Nauheim bedürftigen Ärzten, ihren Witwen und minderjährigen Kindern ungeachtet ihrer Nationalität, Religion oder Rasse eine allumfassende Kur zu gewähren.“ Bei dem zweiten Termin (22.09.1951) wurden die 5 Mitglieder des Stiftungsrates mit Dr. Groedel als Vorsitzenden und die vorläufige Stiftungssumme benannt. Groedel starb am 12.10.1951. Auch in seinem Testament (24.07.1951) wird der Stiftungswille festgehalten.
Wichtig war ihm, was er bereits gegenüber dem damaligen Bürgermeister zum Ausdruck brachte: Die Betreuung der Insassen sollte durch einen Arzt in Funktion eines Abteilungsleiters erfolgen, der als solcher die wissenschaftlichen Arbeiten des Kerckhoff-Instituts ergänzt und fördert.
Die teils wechselvolle, teils vergessene Geschichte spiegelt sich in wohl kaum einer anderen Immobilie der Stadt so deutlich wider wie in Groedels Sanatorium (Terrassenstr. 2): Wilhelm Jost, der Architekt der Jugendstilanlagen, baute im Winter 1907/08 das Haus für Isidor Groedel, der bereits ab 1875 im Alter von 25 Jahren praktizierte. Seine beiden Söhne Theo und Franz Maximilian unterstützten ihn seit 1902 bzw. 1904. Theo fiel als Stabsarzt der Reserve im 1. Weltkrieg, Sohn Franz führte nach dem Tod des Vaters die Praxis weiter. Zahlreiche hohe Gäste aus dem In- und Ausland gingen ein und aus.
Doch um Groedels Nachlass gab es gerichtliche Auseinandersetzungen in den USA und in Deutschland. Grundlage der Einsicht in die Streitigkeiten ist ein Verhandlungsprotokoll (Matter of Groedel) vom 21.06.1960 vor dem Ersatzgericht, New York County. Demnach ist strittig, ob die Stiftung zum Zeitpunkt des Todes des Erblassers bestand.
Bis Januar 1955 waren die Räumlichkeiten durch die amerikanische Besatzungsmacht belegt. Es schlossen sich Umbau- und Renovierungsarbeiten an, um Strukturen und Verbesserungen für den vorgesehenen Zweck zu schaffen. Am 12.11.1954 erteilte der Hessische Innenminister der Stiftung die offizielle Genehmigung. Der eigentliche Betrieb der Stiftung als gemeinnützige in Bad Nauheim wurde am oder um den September 1956 mit der Übergabe ihrer Liegenschaft an die Hessische Kurverwaltung zum Betrieb des vorgesehenen Zweckes aufgenommen. Am 04.04.1959 soll vom Land Hessen ein Bescheid ergangen sein, in dem die 1954 erteilte Ermächtigung der Deutschen Stiftung widerrufen wurde. Die Entscheidung beruhe insbesondere auf dem Mangel der Vollmacht. Die Stiftung ging in Berufung. In einer 2. Entscheidung bestätigte der Minister seine ursprüngliche Entscheidung, die Zulassung zu widerrufen. Die mündlich erteilte Vollmacht an Frau Dr. Weiß „macht das Verfassungsgesetz nicht gültig“, sagte er.
Was nach Außen drang und veröffentlicht wurde, hört sich anders an:
Während der 7-jährigen Bauphase soll Dr. Victor Ott und seine Mitarbeiter von 1956 – 1963 übergangsweise das Groedel-Sanatorium genutzt haben. Ott hatte die Annahme seiner Berufung 1955 davon abhängig, ein eigenes „klinisches“ Institut zu erhalten.
Im März 1984 berichtet die WZ: Das ehemalige Groedel-Sanatorium in der Terrassenstr. 2 wird eine Wohnanlage. Während der hintere Flügel des Sanatoriums der Spitzhacke zum Opfer fällt, wird der unter Denkmalschutz stehende Querbau ausgekernt. Als Eigentümer wird das Versorgungswerk der Landesärztekammer Frankfurt genannt.
Was war anders am Groedel’schen Organisationsmodell?
Es stellt sich die Frage, inwieweit die Kerckhoff-Stiftung mit amerikanischem Geld nicht nur ein stattliches Gebäude zu Forschungszwecken ermöglichte, sondern auch Vorstellungen und Ideen von Amerika nach Deutschland im Hinblick auf Forschung und Klinik transportierte. Aktualität hat diese Frage bekommen bei der Diskussion um Rudolf Thauer dem Älteren, der „1945 nach einem kurzen Aufenthalt in Kiel im Rahmen der sogenannten Operation Paperclip vom Bureau of Aeronautics der US-Navy angeworben wurde, wo seine Kenntnisse offenbar als potentiell nützlich angesehen wurden.“ Vier Jahre lang habe er als Forscher in einem Navy-Labor in Philadelphia gearbeitet, so Carsten Timmermann, Centre for the History of Science, University of Manchester. Schon in den 1940er Jahren des letzten Jahrhunderts lernte er die Mayo-Klinik in Rochester während eines US-Aufenthaltes kennen und war begeistert über die Art der Zusammenarbeit von Grundlagenforschung und Klinik. Ist es Thauer gelungen, nach seiner Rückkehr die Idee der Einheit von Theorie und Praxis im Kerckhoff-Klinikum umzusetzen? In der Argumentation folge ich den Ausführungen Timmermamms.
Ich gehe der Frage nach, ob durch Groedel nicht schon in den Vorkriegsjahren die Idee vorhanden war? Und wenn ja, wie die Ansätze der Verwirklichung aussahen? Die Grundlage dazu ist die
Promemoria:
Da wird zunächst die Gemeinnützigkeit des Sanatoriums (der Klinik) betont. D.h., es haben freien Zugang sowohl „Privat“- als auch Kassenpatienten, weshalb für Groedel wichtig war, u.a. von der Staatlichen Versicherungsgesellschaft die Sicherheit zu haben, eine gewisse Anzahl von Patienten zur Behandlung zugewiesen zu bekommen. Offenbar war für Groedel immer wichtig, die Ärzteschaft (auch als Spezialisten) und die „Krankenkassen“ kooperativ mit dabeizuhaben. Dass daneben weltweit auch „Privatpatienten“ Geld in die Kassen des Projektes spülten, half allen Patienten und dem Ansehen Groedels. Dazu kam die „Atmosphäre“ Nauheims als „Bad“, wobei Thauer zur Notwendigkeit, an einem Kurort ein unabhängiges Institut anzusiedeln, die Nase rümpfte. Groedel war (im Gegensatz zu Thauer) Kardiologe und Balneologe. Er verstand es, die Kraft des Heilwassers gezielt einzusetzen. In der Sichtweise ganzheitlicher Behandlung waren ihm wichtig, auch psychosomatische Anteile eines Krankheitsbildes zu verstehen und u.U. behandeln zu lassen. Wie die Verbundenheit mit den Bad Nauheimer Ärzten zeigt, schätzte er kollegiale Zusammenarbeit.
Inwieweit die je eigene Struktur von Kerckhoff-Institut und Max-Plank-Gesellschaft bei den Übernahmeverhandlungen, auch in ihrer Bedeutung für die Forschung zur Diskussion stand und die unterschiedlichen Strukturen in der Abwägung der Nützlichkeit eine Rolle spielten, ist nicht ersichtlich.“Diese Übernahme war wegen des Rechtsstatus des Instituts problematisch und MPG-Präsident Otto Hahn bezeichnete es in einem Brief an Schäfer 1950 als ‚das jüngste Kind‘ der MPG, dessen Legitimität noch etwas im Unklaren ist“ (Timmermann/MPG-Archiv).
„Wissenschaft muss heute mehr denn je interdisziplinär betrieben werden, um erfolgreich zu sein, und wissenschaftliche Erkenntnisse können ‚zum Wohle des Kranken‘ nur fruchtbar auf breiter Basis vermittelt werden.“ Ich bin sicher, Franz. M. Groedel würde dieser Aussage vorbehaltlos zustimmen (Schlepper, 1988).- Die Orientierung nach amerikanischen Vorbildern stellte sich für ihn wohl kaum. Er war in Deutschland wie in den USA zu Hause und kannte sicher Thauers Vorbild, die Mayo-Klinik in Rochester, Minnesota, in ihrer innovativen Wirkung bezüglich Zusammenarbeit von Theorie und Klinik.
Timmermann resümiert: „Organisatorisch war das Kerckhoff-Institut der frühen dreißiger Jahre „amerikanischer“ als nach der Aufnahme in die Max-Plank-Gesellschaft in den Fünfzigern. In der Tat scheint beim Kopieren das Etikett oft wichtiger zu sein als die Inhalte.“
Vom „Juden-Institut“ zum Nazi-Institut?
Mit Hitlers Machtergreifung 1933 und der in diesem Jahr beginnenden Gleichschaltung der Vereine wurde nicht nur gesellschaftliches Leben unterdrückt, sondern auch institutionelle Freiheiten außer Kraft gesetzt. Die personellen Strukturen wurden nach dem Führerprinzip ausgerichtet. Der emigrierte Franz Groedel blieb zwar Direktor des Instituts, musste aber von New York aus zusehen, was die im Institut über die Kriegszeit verbliebenen Funktionsträger aus dem Institut machten.
Rudolf Thauer spricht von einem „tragischen Geschick“, das Groedel dazu verurteilt habe, „schon kurz nach der Verwirklichung seiner Idee aus der eigenen Schöpfung verbannt“ worden zu sein (Jahrbuch der Max-Planck-Gesellschaft, 1961). Störend an der Formulierung ist, dass Thauer Groedels erzwungene Auswanderung als „Schicksal“ bezeichnet, als ginge es ihn (Thauer) persönlich nichts an und als hätte er damit auch nichts zu tun. Thauers Mitgliedschaft in der NSDAP und die in zahlreichen anderen NS-Organisationen können und dürfen nicht vergessen machen, welches Leid dadurch den Juden und Aber-Tausenden Verfolgter widerfahren ist.
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Die organisatorische Ausrichtung des Instituts sei zunächst vor allem klinisch gewesen, so Thauer. „Schon in den dreißiger Jahren änderte sich dessen Ausrichtung. Die klinischen Abteilungen und Unterabteilungen überlebten das Jahr 1939 nicht, und übrig blieben nur die Physiologie und die Statistik. Schon der erste Leiter der physiologischen Abteilung, Eberhard Koch, stellte die Beziehung zur Universität Gießen her und habe dem Institut den Stempel einer echten physiologischen Forschungsstätte aufgedrückt. ‚Aus einem klinisch-diagnostischen wurde ein rein theoretisches Institut, das (…) sich schließlich nicht mehr von entsprechenden Universitätsinstituten unterschied“ (Thauer, zitiert nach Timmermann).
In der Tat gab es Turbulenzen am Kerckhoff-Institut um 1939, die vor allem eines erkennen ließen, mit Kriegsbeginn (1939) standen luftfahrtmedizinische Forschungsprojekte im Vordergrund und Arbeiten mussten von den zuständigen Instanzen jetzt als „staats- und kriegswichtig“ anerkannt sein. Der Ton wurde rauer. Das Gerangel um Posten und Machtpositionen nahm zu, Positionen wurden genutzt, um sich dem Militär anzudienen. Kollegen wurden verunglimpft, um sich Vorteile von Vorgesetzten zu erhoffen.
Hans Schäfer, Abteilungsleiter im Kerckhoff-Institut, soll 1940 den Institutsleiter Eberhard Koch unter Druck gesetzt haben, um an seiner Statt sofort das Amt (des Institutsleiters) übernehmen zu können. Baumann (2017) beschreibt die weiteren Vorgänge: Koch solle sich vehement gewehrt haben. „In der dazu angefertigten Denkschrift (an den Rektor der Universität Gießen u.a.), in der er sich (…) auch gegen Franz Groedel ausließ und rühmte, wie erfolgreich die einst als „Judeninstitut“ bezeichnete Instanz nun sei, klagte er, dass es nicht möglich gewesen wäre, einen Kreislaufforscher einzustellen. ‚Es ist aber geglückt, in Herrn Schäfer einen ausgezeichneten Elektro-Physiologen zu gewinnen‘, der die Qualifikation in Zukunft erlangen könne. Koch wollte das Bad Nauheimer Institut weiterleiten in ‚Personalunion‘ mit seinem Gießener Lehrstuhl.“ Begründung: Wenn er das Institut verließe, dann könnte die Deutsche Gesellschaft für Kreislaufforschung (DGK) nicht mehr an das Institut gebunden sein, und „seine“ Fliegeruntersuchungsstelle könnte nicht am Institut belassen werden.
Schäfer soll in einer Aktennotiz (1940) festgehalten haben, dass er seine „Gefolgschaftsmitglieder“ am Kerckhoff-Institut „mit Handschlag ‚versprechen ließ, ‚strengste Schweigepflicht‘ zu wahren über alle Vorgänge, die mit den kriegswichtigen Arbeiten im Institut zusammenhängen’. Sonst drohten Strafen, ‚ja sogar die Todesstrafe‘“ Ausgenommen seien Prof. Koch und Prof. Weber, dessen Institut wohl mit eingebunden war, jeweils mit Ausnahmen (S. 164). 1940 unterzeichnet Otto Eger für das Kuratorium der Kerckhoff-Stiftung mit Hans Schäfer einen unbefristeten Vertrag als Vorstand der Abteilung für experimentelle Pathologie und Therapie, wobei Schäfers Selbständigkeit betont wurde.
Doch das Bad Nauheimer Institut kam nicht zur Ruhe: „Anfang April (1940) schrieb Koch an Eger, er habe eine sehr unerfreuliche Meldung zu machen: Schäfer sei wohl nicht fähig, ‚selbständig Versuche an Warmblütlern durchzuführen‘.“ Mit anderen Worten: Koch zweifelte die Qualifikation Schäfers an. „Das zunehmende Chaos im Kerckhoff-Institut sowie die Lehrstuhlübernahme in Gießen schadeten mit Sicherheit auch den Bemühungen der Deutschen Gesellschaft für Kreislaufforschung um Eigenständigkeit“ ( Baumann).
In den Biographien der Funktionsträger des Kerckhoff-Instituts spiegelt sich ihre ideologische Abhängigkeit wieder. Eberhard Koch: 1933 – 1939 kommissarischer Institutsleiter in Vertretung von Groedel. Es folgt 1940 Hans Schäfer, der 1951 von Rudolf Thauer abgelöst wird. Koch kam noch durch Groedel 1931 als Abteilungsleiter für experimentelle Pathologie ans Institut. Der NSDAP trat er 1937 bei, und war auch Mitglied des NS-Ärztebundes. In dem Spruchkammerverfahren zu Friedberg wurde er schließlich „als Mitläufer“ entnazifiziert. – Hans Schäfer trat im Jahre seiner Habilitation in Physiologie 1933 der NSDAP bei und der Sanitäts-SA. Im Kerckhoff-Institut war er Abteilungsleiter für exp. Pathologie und Therapie. In dieser Funktion war er an der Geheimforschung zu Kreislauf und Atmung bei Detonationstod und Menschenversuchen zur Höhenfestigkeit beteiligt. Er wirkte auch bei der Luffahrtsforschung über die elektrischen Begleiterscheinungen bei Sauerstoffmangel im Blut mit. 1949 Lehrtätigkeit in Gießen, 1950 Berufung nach Heidelberg. – Als weitere Institutsfunktionsträger sind zu nennen: Siegfried Koller. Er war Sozialmediziner und wurde von der DGK am Kerckhoff-Institut eingestellt, um mit einem Stipendium der Rockefeller-Stiftung ein statistisches Institut betreiben zu können. Koller wurde 1933 Mitglied der NSDAP, der SA, des NS-Lehrerbundes und des NS Dozentenbundes. 1933 wurde das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses als gesetzliche Grundlage von Zwangssterilisationen verabschiedet. Nachdem Koller 1939 Dozent für Bio-Statistik in Gießen geworden war, verfasste er zusammen mit Prof. Heinrich Wilhelm Kranz ein mehrbändiges Werk zur nationalsozialistischen Gesellschaftspolitik, das von 1939 bis 1941 erschien. Von 1945 bis 1952 saß Koller im Zuchthaus Brandenburg als Gefangener der sowjetischen Militäradministration. In Westdeutschland 1956 wurde Koller zum Professor in Mainz und 1957 zum Honorarprofessor in Heidelberg ernannt. Otto Eger als Rechtsbeistand der Stiftung, Universität Gießen, trat ab 1941 der NSDAP und anderen NS-Organisationen bei, soll sich gegenüber Groedel immer loyal verhalten haben.
Die teilweise sehr fatalen Abhängigkeiten, die sich in der Besetzung von Positionen äußerten und durch die Inhalte der Forschung (Luftwaffenforschung) organisationsspezifische Grenzen verwischten oder gar außer Acht ließen, hatten nicht nur auf die wissenschaftliche Arbeit atmosphärische Auswirkungen, sondern vor allem strukturelle. Thauer fischt in diesem Gewässer und bereitet schon sichtlich ehrgeizig seinen späteren Weg in Kochs Funktionen vor.
Groedels Persönlichkeit
Welches Verhältnis Groedel zu den Funktionsträgern in seinem Institut hatte, ist nicht klar, wie auch die Frage, wie er deren Haltung gegenüber Wissenschaft und Forschung sowie Treueverpflichtung am Institut der dreißiger und vierziger Jahre einschätzen würde.
Um auf Schlepper zurückzukommen: „In seiner (Groedels) neuen Heimat New York wurde er aktiv in der New Yorker Rudolph-Virchow-Gesellschaft und in der New York Cardiological Society, aus der heraus er 1949 (…) mit Bruno Kisch das American College of Cardiology ins Leben rief und sein erster Präsident wurde.“ Teilweise führte er auch eine Privatpraxis und publizierte (neue) Erkenntnisse. – Insofern „transportierte“ er Vorhaben in Deutschland, die er nicht mehr verwirklichen konnte, in die Neue Heimat – und schien ausgelastet.
Soweit ich in Briefen Einsicht nehmen konnte, mit Koch waren die Kontakte eher spärlich. Groedel wusste wohl, dass er sich in der Erfüllung der satzungsgemäßen Aufgaben der Institutsleitung auf ihn verlassen konnte. Andererseits schien Koch seine eigenen Karrierewege (mit gelegentlichen abfälligen Bemerkungen gegenüber Groedel) ehrgeizig zu verfolgen..
Reger Schriftverkehr liegt hingegen mit Schäfer vor. Groedel spricht darin sehr offen und direkt Vorgänge und Bemerkungen an, betont andererseits die freundschaftliche Beziehung. Z.B.: „Ich würde mich freuen, wenn Sie meine Ausführungen so aufnehmen wollten, wie sie gemeint sind – als freundschaftliche Kritik Ihrer Verwaltungstätigkeit.“ (14.04.1950).
Neben Bruno Kisch zu den wenigen, aber tiefgreifenden Freundschaften, gehört die mit Heinz Lossen. Groedel: „Ich bin mit Lossen durch eine lebenslange Zusammenarbeit freundschaftlich verbunden und werde diese Freundschaft nicht kündigen“ (trotz einer „finanziellen Nachlässigkeit“ über ca. 32.000 RM, die Groedel durch Vorleistung dem Institut wieder zukommen ließ). Groedel ging sehr offen mit dem Verschulden um, ohne die Nachlässigkeit zu billigen (28.08.1950). Lossen anlässlich seines 70. Geburtstages am 04.03.1963: “Die Begegnung und Zusammenarbeit mit Franz Groedel in Frankfurt und Bad Nauheim wurde zum entscheidenden Faktor der weiteren Entwicklung und führte nicht nur zu einer fruchtbaren wissenschaftlichen Tätigkeit, sondern auch zu einer tiefen menschlichen Freundschaft …“. Groedel hatte Lossen 1932 für die Abteilung Röntgelogie ans Institut geholt.
Sehr emotional wurde Groedel, als es um die Suche nach einem anderen Institutsleiter ging und er seine Verbundenheit mit der Bad Nauheimer Ärzteschaft verteidigte: „Ich habe das Institut und die Stiftung in Nauheim errichtet, weil ich der dortigen Ärzteschaft eine Stätte für wissenschaftliche Betätigung und Ausbildung schaffen wollte. In Nauheim waren – bevor Sie geboren waren, lieber Herr Kollege – bereits Ärzte von Weltruf und wissenschaftlichem Rufe. Ihre hochfahrenden Worte: Als Präsident der Stiftung kann kein in Bad Nauheim ansässiger Arzt in Rede stehen etc., sind ein Schlag ins Gesicht der Bad Nauheimer Ärzteschaft. Eine solche Herabsetzung des Arztes oder einer Ärztegruppe habe ich noch nie aus dem Munde eines Wissenschaftlers gehört. .. Lieber Herr Kollege Schäfer, diese und andere Ihrer Bemerkungen zeigen einen erschreckenden Grad von Hochmut, von Missachtung des Kuratoriums und Missachtung der Ärzteschaft.. Glauben Sie, dass die Ärzteschaft das nicht bald fühlen wird? Soll das Kerckhoff-Institut ein Feind der Nauheimer Ärzte werden? Das Gegenteil war meine Absicht (Brief an Schäfer, 14.04.1950).
Meine Vermutung war, trotz anderslautender Aussagen (z.B. Britta Spranger, 1993), dass Groedel in Amerika keinen bzw. nur beiläufigen Kontakt zu seinem Nachfolger Rudolf Thauer hatte. Groedel und Thauer waren zu verschieden, und sie verfolgten sehr unterschiedliche Interessen. Als Schäfer in der Nachfolgefrage mitgeteilt hatte, dass es mit der Berufung nach Heidelberg geklappt habe, reagierte Groedel, nicht ohne Ironie: „Ich habe Prof. Thauer nur zweimal gesehen und den besten Eindruck bezüglich seiner Persönlichkeit erhalten. Bezüglich seiner Qualifizierung verlasse ich mich auf ihr günstiges Urteil. .. Ich hoffe, dass Herr Prof. Thauer Ihr Nachfolger wird, und dass Ihre Anhänglichkeit an das Kerckhoff-Institut und ihre alte Freundschaft mit Prof. Thauer es ermöglichen werden, dass Sie auch weiterhin mit und für das Institut arbeiten (28.08.1950).
Übernahme des Kerckhoff-Instituts in die Max-Plank-Gesellschaft
Als Louise Kerckhoff und ihre Erben nach Louises Tod (1946) die Stiftung in Bad Nauheim nicht mehr mit Zuwendungen bedachten, stand die Aufrechterhaltung der Selbständigkeit zur Disposition. Die Geldentwertung 1948 kam noch hinzu. Groedel an Schäfer: „Laut der mir vorliegenden Akten haben die Herren Nordstrom und Coster von der amerikanischen Militärregierung Mitte Februar 1948 dem Institut mitgeteilt, dass die Militärregierung veranlasst hat, dass das Kerkhoff-Institut auf die Liste der Gründungsinstitute der Max-Plank-Gesellschaft gesetzt wurde, und das Institut somit eingeladen sei, der MPG beizutreten, dass aber kein Zwang vorliege. … Sie werden sich erinnern, dass unser Institut auf meine Veranlassung unter besonderen Schutz gestellt wurde, und dass daher auch diese Aktion der Militärbehörde das Resultat des gewährten Schutzes war. .. Am 02.03.1948 schrieben Sie, Herr Kollege, zusammen mit Herrn Prof. Eger (Justiziar), dass Sie unter Vorbehalt nachträglicher Genehmigung den Beitritt des Instituts zur MPG erklärt haben“ (Schr. Groedel an Schäfer, 14.04.1950). Vier Monate später: „Das Bild, das ich mir von ihm (Prof. Otto Hahn, Direktor der MPG) gemacht habe, entspricht durchaus der Tatsache, dass er in Sachen Kerckhoff-Institut die rechtliche oder faktische Lage nicht überschaut hat. Dasselbe haben Sie, wenn auch unter dem Einfluss von Prof. Hahn getan. Meine Absicht war, Sie von Handlungen abzuhalten, die Sie unter dieser unrichtigen Voraussetzung vorhatten oder teilweise begonnen hatten und die gegen die Interessen des Kerckhoff-Instituts gingen.(…). Das Gegebene war doch: Klärung der Situation und Umgrenzung der beiderseitigen Rechte und Pflichten. Von hier aus konnte ich die Situation nicht übersehen und nicht beurteilen, ob und welche Gründe vorliegen, diese Frage überhaupt zu erörtern. Deshalb antworte ich Ihnen und den mich befragenden Herren Kuratoren, dass ich weder in der Lage noch kompetent war, Stellung zu nehmen“ (Schr. 28.08.1950). Damit lag der Ball wieder beim Kuratorium der Stiftung bzw. bei Hans Schäfer, der sich anschickte, dem Ruf nach Heidelberg zu folgen.
Ein Vertragsabschluss ist mir nicht bekannt, nur ein Hinweis in einem Brief von Frau Dr. Weiß, Groedels Rechtsanwältin, – an einen befreundeten Rechtsanwalt zur Personalie Schäfer/Thauer: „Minister Schramm tadelte sehr, dass Schäfer sein Amt Thauer übergab und fand, dass das einzig und allein nur dem Kuratorium zugestanden hätte.
Groedel war in dieser entscheidenden Übergangsphase nicht vor Ort. Es kann angenommen werden, dass er erleichtert war, die Verantwortung für sein Institut ihm abgenommen zu wissen. Die Fäden hatte Hans Schäfer in Richtung Max-Planck-Gesellschaft und in der Groedel-Nachfolge in Richtung Thauer gezogen..
Ein fragwürdiger Neuanfang mit Rudolf Thauer d. Älteren – und offene ethischen Fragen!
Es ist vergessen: Die NS-belastete Justus-Liebig-Universität Gießen öffnete ihren „normalen“ Betrieb erst 1957 wieder. Eberhard Koch verlor vorübergehend seine Lehrerlaubnis. Otto Eger musste im Auftrag der amerikanischen Besatzer die „alte“ Justus-Liebig-Universität abwickeln. Die Neu-Gründung der Max-Planck-Gesellschaft war 1948 in Göttingen. Die „Einbindung“ des W.G. Kerckhoff-Instituts in die MPG fand 1951 statt. Dies, um die Umrisse des „dunklen Loches“, das der Krieg gerissen hatte, zu verdeutlichen.
In dieses Vakuum stößt Thauer, der am 31.10.1950 von der Kerckhoff-Stiftung einen Ruf als stellvertretender Direktor des Instituts für Herz-Kreislauf-Forschung in Bad Nauheim erhalten hatte. Im gleichen Jahr wird er vom Hessischen Kultusminister zum Ordinarius und Direktor des Pysiologischen Instituts Gießen ernannt. Am 10.12.1951, nach Groedels Tod, wird er Direktor des Kerckhoff-Instituts.
Thauer steht in unmittelbarer Nachfolge des Institutsgründers Franz M. Groedel ab Dezember 1951.
Er war von 1933 -1935 Sturmbannarzt. Der NSDAP trat er 1937 bei und war Teilnehmer der Besprechung Seenot und Winternot im Oktober 1942, in der die Ergebnisse der Menschenversuche aus dem KZ Dachau präsentiert wurden.Von Frankfurt wechselte er nach Danzig, wo er Versuche „am stark unterkühlten Organismus“ durchgeführte, wobei für die Probanden keine Lebensgefahr bestanden haben soll. 1944 lief das Projekt „Die Beeinflussung der Wärmeregulation durch Medikamente und Gifte unter besonderer Berücksichtigung der allgemeinen Auskühlung im Wasser“, bei dem die Versuchsobjekte nicht bekannt sind (Baumann, 234). Nach seiner Flucht aus Danzig vor der Roten Armee gelangte Thauer nach Wetter/Hessen. Er arbeitete dann von Februar bis Oktober 1945 am Kerckhoff-Institut Bad Nauheim. In dieser Zeit fällt wohl der Spruchkammerspruch, dass er vom Belasteten zum Mitläufer herabgestuft wurde – und es ist anzunehmen, dass sich in dieser Zeit die „tiefe“ Freundschaft zu Thauer entwickelte, unter dem Institutsleiter Hans Schäfer. Nach Kiel folgte von 1947 – 1951 das Naval Air Material Center in Philadelphia.
Mich befremdete sehr, als ich hörte: „In seiner Forschung beschäftigte sich Thauer auch in Bad Nauheim weiterhin mit Temperaturregulation, wie vor 1945. Er machte früh Pläne, wie er 1953 in einem Brief an Hahn (MPG-Direktor) schrieb, ‚den einen oder anderen tüchtigen Physiologen wieder aus Amerika zurückzuholen‘“. 1954 wurde der Physiologe Otto Gauer eingeladen, als Mitarbeiter ans Institut zu kommen. Wie Thauer war er NSDAP-Mitglied (seit 1937) und hatte 1942 an der „Seenot“-Tagung teilgenommen. Ebenfalls wurde er im Rahmen der Operation Paperclip in die USA rekrutiert (Timmermann).
Was nicht ausgespart werden kann, ist die Überlegung, wann Schluss ist, oder besser, wann Schluss sein könnte mit Fragen und der Suche nach Antworten, die die Haltung eines Menschen gegenüber dem Nationalsozialismus und seinen Machtbabern betreffen. Sicherlich ist ein engerer Maßstab anzulegen bei denen, die auch sonst im Leben mit Menschen zu arbeiten haben, wie bei Ärzten. Ich stelle mir vor, mich würde ein Arzt behandeln, von dem ich weiß oder wissen müsste, dass er mit Menschen Versuche machte, die diesen nicht Gesundheit oder die Hoffnung auf Gesundung brächten, und mich als Objekt für Kriegstauglichkeit ansehen würden?
Nach dem Krieg war es vielleicht noch möglich, unterzutauchen in der Menge, die dasselbe oder ähnliches Schicksal erlebt hatte. Doch Thauer konnte nach der Zurückstufung im Spruchkammerverfahren froh sein, „gnädige Richter“ gefunden zu haben – eine Chance, unter der Vergangenheit einen Schlussstrich zu ziehen. Und er hatte ein Ziel vor Augen, nach Gießen und Bad Nauheim zurück! Thauer schrieb einen Brief, „in dem er darum bat, ihm ‚einen großen Wunsch‘ zu erfüllen und der US-Navy mit Nachdruck zu erklären, dass er in Bad Nauheim und Gießen ‚praktisch unentbehrlich‘ sei. Und Timmermann fährt fort: „Obwohl er später die amerikanische Forschung als vorbildlich darstellen sollte, zog es ihn nun vor allem zurück nach Deutschland.“
Timmermann beruft sich auf Oeler-Klein (Hrsg) und schreibt: „Für Thauer und andere deutsche Wissenschaftler, die früh die Nationalsozialisten unterstützten und davon vermutlich profitierten, und die die Forschung in den Dienst des Militärs stellten, bedeutete die Anwerbung durch die Amerikaner nach 1945 viel. Sie gab ihnen eine neue Orientierung nach dem Zusammenbruch. Eine neue Identität. Und solch eine neue Identität war auch für die Gießener Akademie für medizinische Forschung und Fortbildung wichtig, die aus der medizinischen Fakultät der 1945 geschlossenen Universität hervorgegangen war und 1957 Teil der neuen Justus-Liebig-Universität wurden.“ – Ich denke, es gehört zur Verantwortung jedes Menschen, der anderen Unrecht getan hat, das mit sich in Ordnung zu bringen. Das baut Identität auf, die unsere Gesellschaft braucht, statt im „Schlupfloch“ der Amerikaner Sicherheit zu suchen.
Es bleibt noch, der Frage nachzugehen, ob Thauer und Gauer das Institut in Richtung dessen umorientiert haben, durch das, was sie in den USA erfahren haben?
Thauer sieht den Vorteil des angelsächsischen Modells in der engen Verbindung von Grundlagenforschung und Klinik. Ein erster Schritt wurde Mitte der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts durch die Anmietung des ehemaligen Balneologischen Instituts erreicht, das die sog. „Kardiologische Abteilung“ aufnehmen sollte. Dazu wurde eine Klinik mit 100 Betten geschaffen (1956), die heutige Kerckhoff-Klinik. Es war eine strukturelle Verzahnung insofern geplant, als die verwaltungstechnische Trägerschaft dem Staatsbad übertragen wurde, andererseits die Trägerschaft in Personalunion mit dem Leiter der Kardiologischen Abteilung gegeben sein sollte. Doch die getrennten Trägerschaften haben zu Interessenskonflikten zwischen Staatsbad und Kerckhoff-Institut geführt, bis die MPG entschied, die Trägerschaft auch für die Klinik zu übernehmen (1963).
In der Diskussion wurde deutlich, dass die klinische Forschung geringere Wertzuweisung erfährt als die Forschung des auf eine Person zugeschnittenen nuturwissenschaftlichen Instituts. „Thauer stand mit seinen Sorgen über den Zustand der westdeutschen klinischen Forschung nicht allein. Der Wissenschaftsrat diskutierte Anfang der 1960er Jahre Maßnahmen zu deren Verbesserung. ‚Es besteht weitgehend Einigkeit darüber‘, heißt es in einem Schriftstück von 1961, ‚dass die klinisch-medizinische Forschung in der Bundesrepublik mit dem Ausland nur schwer schritthalten kann.‘“
Blieb es dann bei den Empfehlungen, die der Wissenschaftsrat machte: „die Einrichtung eines ‚Klinischen Forschungszentrums‘ und die Schaffung ‚klinischer Spezialabteilungen‘“, wobei (wieder einmal) die Bedeutung der Zusammenarbeit (auch von Thauer) beschworen wurde? Wie meinte Timmermann doch: „Inhaltlich und organisatorisch konnte es sich als schwierig oder sogar unmöglich erweisen, amerikanische Modelle innerhalb deutscher Verwaltungsstrukturen oder des Ordinariensystems der deutschen Universitäten zu verwirklichen.“
Ich danke Archivarin Brigitte Faatz und Alfred Vieth für die Unterstützung bei der Quellensuche.
Groedels Werk – über den Tod hinaus gedacht
Um die Jahrhundertwende des vorletzten Jahrhunderts war der (Familien-)Name Groedel in seiner Heimatstadt ein Begriff – über Bad Nauheim hinaus, in Europa und jenseits des Atlantiks. Warum war er bei uns so schnell vergessen?
Wollten wir Franz M. Groedel durch die Jahrzehnte bis zur Gegenwart begleiten, dann wäre unser Ausgangspunkt das Jahr 1933. Zum Ausgangsjahr erfahren wir mehr aus Groedels Antwortschreiben an Bürgermeister Adolf Bräutigam (SPD) 1945 auf dessen Anfrage hin, wann er denke, nach Bad Nauheim zurückzukommen (veröffentlicht in den „Amtlichen Bekanntmachungen“ vom 26.September 1945). Groedel, der sein Leben nach der erzwungenen Ausweisung bis zu seinem Tod 1951 in den USA verbrachte, lässt in seinem Schreiben die gesellschaftliche Ausgrenzung als Jude und Arzt nochmal kurz lebendig werden mit den Worten: Ich „schaute zu“ der ekelhaften Tragikomödie ab 1.4.1933, dem Juden-Boykott-Tag, und der Offenbarung so manchen Mitarbeiters mir als Juden gegenüber bis Anfang Oktober, „bevor ich mich endgültig entschloss, den Entscheid des deutschen Volkes zu akzeptieren, wonach meine Familie und ich nicht mehr zu ihm gehörten“. Die Lebensbedingungen in den USA beschreibt er hingegen so: Ich bin seit vielen Jahren amerikanischer Staatsbürger und „jeder, der das Glück hat, in den Vereinigten Staaten zu leben, besonders aber als Bürger in die Gemeinschaft dieses liberalen Volkes aufgenommen zu sein, kann nicht anders als loyal zu ihm zu stehen.“ Nazi-Erfahrungen hätten bei seiner Entscheidung der Emigration keine Rolle gespielt, die bitteren Erfahrungen 1930 -1932 (Anfeindungen, Charakterlosigkeiten seitens der Regierung, gewisser Behörden und einzelner Personen) beim Bau des Instituts dagegen sehr.
Es wird deutlich, was der Bad Nauheimer Bürgermeister anzubieten hatte, war lediglich die Überraschung des Anschreibens kurz nach Kriegsende. Es fehlte eine Perspektive für Groedels Herzensanliegen: das Kerckhoff-Institut mit den Möglichkeiten unabhängiger, freier Forschung – wie sie vor 1933 möglich schien. Groedel: Ein Aufbau der Stadt wird möglich sein, „wenn alle diejenigen, die früher den Ruf Nauheims von Jahr zu Jahr gefördert haben – vom Badewärter angefangen bis zum Arzt und Verwaltungsbeamten – ihre Arbeit dort wieder und in gleicher Weise und im gleichen Geiste aufnehmen, wo sie im unseligen Jahre 1933 aufgegeben werden musste“. – Ohne die Besatzungsmacht im Rücken zu wissen, wäre ein solches Vorhaben aber nicht möglich gewesen, dennoch notwendig, um den Übergang zur Max-Plank-Gesellschaft im Sinne Groedels zu bewerkstelligen und mit einem politischen Schuldeingeständnis den Wunsch nach einem Neuanfang glaubhaft machen zu können.
Das bis heute fehlende Schuldeingeständnis hat in der lokalen Geschichtsschreibung einiges verzerrt, was nicht mehr wahrgenommen wird: Eine Haltung gegenüber Mitbürgern und Menschen, die aufgrund ihrer Religion, ihrer Parteizugehörigkeit … sich unter Einsatz ihres Lebens gegen Unrecht und Gewalt gestellt haben. Sie waren mit unterschiedlichen Motiven Bürger unseres Gemeinwesens und sie gehören als (Straßen-)Vorbilder in unsere Nachbarschaft, in unsere Stadt. Ihr Leben und Wirken muss unter Bezug auf „Groedel“ lebendig gehalten werden.
Es wäre anzuknüpfen am Image seiner Person und seines identitätsstiftenden Wirkens als Arzt und als Wissenschaftler.- Bad Nauheim ist die Groedelstadt!
Um Franz Groedel im Gemeinwesen der Stadt wieder Bedeutung zu geben, ist zu überlegen,
– die Ausrufung eines Groedeljahres in Abständen von fünf Jahren bei runden und halbrunden Lebensdaten,
– die Erarbeitung von Aspekten seiner Persönlichkeit – als Mensch und Jude, als Wissenschaftler und Arzt, jeweils im Spiegelbild der Zeit sowie deren Präsentation als Schwerpunktthema beim jeweils folgenden Groedeljahr,
– die Aufarbeitung der gesellschaftlichen Ausgrenzung durch die Nazis und des Verrats durch die evangelische Kirche.
Anmerkung: „Am 1.4.1933 marschierte die SA und auch die SS (!) vor jüdischen Geschäften, Anwaltskanzleien und Arztpraxen auf (…). Eine geradezu verhängnisvolle Rolle spielte ein evangelischer Pfarrer (Pfr. Hermann Knoth, Anm. d. Verf.), der bei den Vorbereitungen des lokalen Boykottausschusses auch die Familie Groedel mit einbezogen haben wollte. Als sich verhaltene Proteste einiger Bürger gegen etwaige Aktionen vor dem Hause Groedel wegen des Umstandes, dass Prof. Groedel doch kein Jude mehr sei, erhoben, unterdrückte er diese Einwände mit dem Ausruf: ‚Ein Taufschein liegt hier nicht vor‘. Daraufhin wurden auch die getauften Juden in die Boykottaktionen mit einbezogen. ‚Vier bis fünf SA-Leute versperrten die Eingänge am Sanatorium Groedes‘. Franz Groedel, die bedeutendste Persönlichkeit unter der Bad Nauheimer Ärzteschaft entschloss sich zur Emigration. Die widerlichen Angriffe seitens einiger Mitarbeiter am Kerckhoff-Institut und die Aktionen vom 1.4.1933 veranlassten ihn, ‚den Entschluss des deutschen Volkes zu akzeptieren, wonach meine Familie und ich nicht mehr zu ihm gehörten‘ (Franz Groedel, Brief vom 25.9.1945 an Bürgermeister Bräutigam)“ – Text siehe Stephan Kolb, 1987.
– Lebendige Kultur in unserer Stadt: Das könnte Offenheit des Umgangs miteinander und gegenüber der historischen Erinnerung bedeuten. – Auch die Stadt braucht eine institutionelle kulturelle Plattform.
Anmerkung:: Die Stadt hatte bei Amtsantritt von Bürgermeister Bernd Rohde 1981 begonnen, erstmals den Kulturbereich in eigene Verantwortung zu nehmen und sich nicht auf das Staatsbad zu verlassen. Der Auftrag an Kulturdezernent Klaus Beier war, ein stadteigenes Kulturprogramm auszuarbeiten (WZ 2/1982). Es wurde in der Folge ein Kulturamt geschaffen und ein Kulturreferent (1984) eingestellt. Nach seinem altersbedingten Ausscheiden blieb die Stelle unbesetzt. Der scheidende Referent beklagt: Viele kulturellen Projekte werden heute durch privates Engagement und Fördervereine oben gehalten. Die letzten Jahre seien durch eine Bestandserhaltung geprägt worden, sagt Lenz. Wären Vereine nicht eingesprungen, hätte es Einbrüche gegeben (WZ,05.09.2018). – Seitdem hat sich kaum etwas verändert – in der 33.000-Einwohnerstadt.
– Ein lange im Gespräch gewesenes Stadtmuseum könnte identitätsstiftend wirken: Notwendig ist die Errichtung eines Groedel-Museums (mit auf das Erbe Groedels zugeschnittenen Bereichen wie Kardiologie, Röntgenologie, Balneologie, wissenschaftliche Bücher und Persönliches), entweder im Kerckhoff-Institut oder als Abteilung eines Stadtmuseums z.B. zusammen mit „Salz und Salzproduktion“ sowie „Elvis Presley“.
Anmerkung: Die Groedel-Sammlung mit 23 Gemälden wird – vorerst für drei Jahre – an das Oberhessische Museum in Gießen übergeben. Zwischen den Städten Gießen und Bad Nauheim wird ein entsprechender Leihgabenvertrag unterzeichnet. Es handelt sich um Werke von Leistikow, Schleich, Spitzweg .. Die Kunstschätze des berühmten Bad Nauheimer Arztes Prof. Dr. Franz Maximilian Groedel wurden durch seine testamentarische Verfügung der Stadt übereignet. Die bereits 1955 mit städtischen Mitteln restaurierten Gemälde lagerten bislang auf dem Dachboden des Rathauses (WZ, 06/1983).
Das Salzmuseums im Teichschlösschen existierte von 1977 bis 1997. Die Exponate ruhen in Kisten und Kasten verpackt im Obergeschoss eines Badehauses, ein Zustand, der von Bürgern, Gästen und Schulen sehr bedauert wird (WZ, 11/2000).
Das seit der Schließung des Salzmuseums fehlende Museum beschäftigt den Kulturausschuss, der beschließt, die Stadt könne sich ihrer Verpflichtung zum Erhalt eines stadtgeschichtlichen Museums nicht entziehen… (WZ 5/1998).
Einbau eines Museums als Ersatz für das geschlossene Salzmuseum: Vorschläge u.a. von Seiten der AG Geschichte und der Agendagruppe Kultur, das Programm nunmehr bei einem anderen zur Renovierung anstehenden Gradierwerk zu realisieren, stoßen bei der neuen Stadtregierung auf Ablehnung. Man hält das Projekt für nicht durchführbar (WZ, 10/1999).
Offenheit bei der Aufarbeitung unerlässlich
Im Jahre 2017 legte Timo Baumann sein Buch vor, das sich mit der Entwicklung der 1927 in Bad Nauheim durch Arthur Weber und Bruno Kisch gegründeten Deutschen Gesellschaft für Kreislaufforschung (DGK) auseinandersetzt. Der Vorstand der Gesellschaft hatte Dr. Timo Baumann vom Institut für Geschichte, Theorie und Ethik in der Medizin der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf beauftragt, die Beziehungen der Gesellschaft und ihrer Amtsträger mit dem Nationalsozialismus (1933-1945) zu analysieren. – Die WZ (17.7.2017) zitiert Prof. Christian Hamm, Direktor der Abteilung Kardiologie der Kerckhoff-Klinik: Der DGK bereitet Thauer gleichwohl „einige Bauchschmerzen“, wie Hamm betont. Es gebe Überlegungen, den Rudolf-Thauer-Preis der Gesellschaft verschwinden zu lassen. –
Das ist ein Anfang. Der Wert der akademischen Aufarbeitung des Beziehungsgeflechtes der Amtsträger der DGK mit dem NS-Regime liegt für mich darin, überhaupt einen Blick „über die Mauer des Alltags“ in die Welt spezifischer, höherer geistiger Ansprüche einer Berufsgruppe nehmen zu können, und um ein Gespür zu bekommen, wie sie ihr Verhalten unter den Extrembedingungen des Nationalsozialismus ändern würden. Vor der „Mauer“, um im Bild zu bleiben, steht der Begriff „Erinnerungsarbeit“ und wenn beide Sichtweisen zusammenkommen wollten – wie es für die Stadt Bad Nauheim nicht nur wünschenswert, sondern notwendig wäre – dann müsste sich auch die „bürgerliche Hälfte“, bis in die Kriegsjahre zurück-arbeiten, um für Fragen und Antworten, auch die Zukunft betreffend, offen zu sein. Doch die Mauer des Schweigens als Folge der traumatischen Erlebnisse des letzten Krieges scheint 75 Jahre nach Kriegsende noch groß. Was im Kollektiv verursacht wurde, bedarf einer breiten gesellschaftlichen Aufarbeitung. Die Stadtverordnetenversammlung und der Magistrat wären Orte, in denen die entsprechenden Zeichen gesetzt werden könnten.
Folgen der Kriegstraumatisierung: Verunsicherung mit „sicherem Griff“ nach dem Falschen
1979… 125 Jahre Stadt Bad Nauheim! Die Erwähnung von Adolf Hitler und Ferdinand Werner, NS-Ministerpräsident von Hessen, in der Liste der Bad Nauheimer Ehrenbürger in Erich Brüchers Jubileumsschrift, Zickzackwege durch Bad Nauheim, führt zu Auseinandersetzung im Stadtparlament. Die SPD findet die weitere Nennung der Namen unerträglich und fordert, diese Namen von der Liste zu streichen. Bürgermeister Schäfer (SPD) verteidigt den Autor, dem es darum gegangen sei, die Bad Nauheimer Geschichte wertungsfrei und lückenlos darzustellen. Nach geltendem Recht sei die Ehrenbürgerschaft mit dem Tod des Ausgezeichneten erloschen … (WZ, Okt. 1979).
1989 – In einem standardisierten Schreiben werden 100 bundesdeutsche Städte angeschrieben, wie mit Ehrenbürgerschaften zwischen 1933 bis 1945 nach dem Krieg umgegangen wurde. Auswertung: „Manche Orte jedoch, wie Remagen oder Bad Nauheim, haben es noch immer nicht geschafft, sich von Ehrenbürger Hitler in akzentuierter Form historisch-politisch zu distanzieren, die Schmach zu tilgen“ (Haase/Hühne, taz.die Tageszeitung, 21.04.1989).
2017: „Das Totschweigen hat ein Ende“? Etwa zur gleichen Zeit des Erscheinens von Baumanns Buch teilte mir ein SPD-Stadtverordneter auf Anfrage mit: Die Straßennamen zu Bad Nauheim-Süd wurden intensiv und kontrovers in Ortsbeirat, Bauausschuss und Magistrat behandelt. Man hat sich letztendlich für neutrale Benennungen ausgesprochen. Es werden Hermelinweg, Dachspfad und An-den-Streuwiesen in der Stadtverordnetenversammlung zur Abstimmung gestellt. Das ist vor allem darauf zurückzuführen, dass Personennamen im Nachhinein historisch problematisch werden können. Carl Oelemann ist ein hiesiges Beispiel – Otto Eger in Gießen ein anderes. Für unsere Widerstandskämpfer trifft das sicher nicht zu. Man hat allerdings, um auch künftig solche Probleme gänzlich zu umgehen, Tiernamen und Obst gewählt. Auch für künftige Straßen im Gebiet der Kernstadt soll auf Personennamen verzichtet werden. – Es standen auch noch die vier „Gründungsmütter“ des Grundgesetzes zur Diskussion, sowie Peter Keller, Herbert Schäfer oder Prof. Dr. Dodt und eine ganze Liste weiterer Persönlichkeiten (23.06.2017). – Es ist anzumerken, diese Information spiegelt den Sachstand zur Personen-Straßenbenennung wider, aber auch die Haltung, die von den Genossen in den Gremien dazu eingenommen wurde.
2003/2004 – Während bisher Ereignisse in chronologischer Reihenfolge aufgezählt wurden, zeichnet sich kurz nach der Jahrtausendwende ein „Knotenpunkt“ ab, der historisch des Versuchs einer Entflechtung bedarf. Zum Namen Prof. Dr. Eberhard Dodt auf der Liste oben wäre im Zusammenhang mit der Straßenbenennung nach Prof. Dr. Rudolf Thauer, dem Älteren, zu erwähnen, wozu man besser im „Vorhinein“ recherchiert hätte. Beide sind hochgeschätzte Wissenschaftler des Max-Plank-Instituts: Thauer von 1951 bis zu seiner Emeritierung 1974, Dodt ab 1966 mit der Leitung einer neu eingerichteten Abteilung der Augenheilkunde betraut, war seit 1974 einer der Direktoren des Instituts für Physiologische und Klinische Forschung. Dass beide wissenschaftlich über Bad Nauheim hinaus sich einen Namen gesetzt haben, steht außer Frage. Was aber dazugehört, ist eine Persönlichkeit, die sich durch ethisch-menschliche Haltung ausweisen kann.
Bei Rudolf Thauer (1906 – 1986) ging es mit der Straßenbenennung ganz schnell. Er starb im März 1986, nachdem er kurz davor noch Ehrenbürger der Stadt geworden war. Und schon eineinhalb Jahre später, im November 1987, wurde nach ihm Im Sichler der „Rudolf-Thauer-Weg“ benannt. Immerhin eineinhalb Jahre Zeit, in denen man sich im Abstand von 40 Jahren nach Kriegsende über die Person und das Karrierestreben hätte ein Bild machen können. Bei der 2003/2004 kontrovers zu seinem Straßennamen geführten Diskussion, angestoßen durch den Historiker Ernst Klee, erhielt Thauer von Bürgermeister Bernd Rohde nicht nur volle Rückendeckung, sondern auch einen „Persilschein“. – Dadurch wurde, was Öffnung und Aufbruch versprach, und eine letzte Chance gewesen wäre, der Stadtentwicklung historisch entscheidende Impulse zu geben, vertan. Brüche in der Entwicklung gab es einige, worüber berichtet wurde. – Für mich ist zudem unverständlich, dass es in der DGK eine Ehrenmitgliedschaft Thauers (1972) neben der von Franz Groedel (1949) und Bruno Kisch (1949) geben kann?
Auffallend ist, seit dem Thauer-Disput gibt es im Stadtparlament keine Eingabe mehr für Straßen mit Persönlichkeitsnamen – seit 15 Jahren! Und den Lee Boulevard wollte und sollte man umbenennen, aber nicht wirklich.
Zu Eberhard Dodt (1923 – 1994): 10 Jahre nach seinem Tod, ebenfalls zur Zeit der Diskussion um den Straßennamen „Thauer“, lag bereits ein Antrag auf Straßenbenennung nach ihm vor. Warum wurde er zurückgehalten? Gibt es einen Zusammenhang mit der Diskussion um Thauer? Die Bürgermeister Bernd Rohde und Bernd Witzel sollen sich zurückhaltend geäußert haben. Nachfragen beim jetzigen Bürgermeister Klaus Kreß nach nun 15 Jahren verlaufen ins Leere… Ein schlechter Stil und fehlende Tiefe, wie auch die Beiträge in der Stadtverordnetenversammlung zum Umgang mit umstrittenen Straßennamen zeigen (WZ, 29.11.2020)? Es ist mehr: zunehmende Unkenntnis geschichtlicher Zusammenhänge – allgemeine Verunsicherung – statt inhaltlich geführter Debatte, ein Verschieben von Verantwortung in die Ausschüsse, zur bürokratischen Regelung in der Stadtverwaltung. Es soll der Eindruck erweckt, als habe man mit „der Sache“ nichts (mehr) zu tun.
Wird nicht Eberhard Dodt durch die Tatenlosigkeit des Bürgermeisters und das schweigende Zusehen der Stadtverordneten mit in den Dunstkreis des Verdachts einer Mittäterschaft im Nationalsozialismus gezogen? Es wäre fatal und absurd, das zu glauben; denn wer sich die Lebensdaten ansieht, der merkt schnell, dass das nicht hinkommen kann. Eberhard Dodt ist als junger Mann Opfer des Russland-Krieges geworden. Er soll einmal gesagt haben: Mir blieb keine andere Wahl, entweder auf dem Schlachtfeld zu sterben oder mit abgefrorenen Füssen nach Hause zu kommen! Um es klar zu sagen, Dodt ist Opfer des NS-Regimes und nicht Mittäter oder Mitläufer. Fatal wäre es – und gegen die Amtspflicht des Bürgermeisters -, wenn aus schlechter Recherche der Schluss gezogen würde, Dodt auch weiterhin als Anwärter auf Straßennamen auf dem Gebiet der Kernstadt auszuschließen. Eberhard Dodt ist ein Vorbild. Trotz Handicap hat er es in der Forschung zu weltweiter Anerkennung gebracht.
2004, zur Zeit der Thauer-Debatte, habe ich an den in Bad Nauheim noch unbekannten Franz Metz anlässlich seines 60. Todestages erinnert, und später auch an den mit ihm befreundeten Robert Wiedermann.
Franz Metz (1878 – 1945), Mechaniker, Gewerkschaftler, Sozialdemokrat, 1928 – 1933 Mitglied des Reichstages, 1944 in Bad Nauheim verhaftet und in das KZ Dachau verschleppt, am 13. Juni 1945 an den Folgen der Haft („Totesmarsch“) bei Geretsried verstorben, wohnhaft in Berlin, Frankfurt und Bad Nauheim (14.02.1944 – 29.06.1945), Homburger Str. 8, Ehrungen: u.a. wurde in Frankfurt-Bockenheim durch Magistratsbeschluss vom 26.09.1947 eine Straße nach ihm benannt.
Robert Wiedermann (1883 – 1960), Gastronom, Gründungsmitglied der Gewerkschaft Gastwirtsgehilfenverband, Sozialdemokrat, Stadtverordneter, Kreistagsmitglied, Stadtrat, Ehrungen: 1956 als erstem Bad Nauheimer das Bundesverdienstkreuz 1 . Klasse, 1957 Verleihung des Ehrentitels „Stadtältester“. Neben Hausdurchsuchungen und Boykott des Geschäftsbetriebes (die Gaststätte Wiedermann war Treffpunkt für Sozialdemokraten) wurde auch er ins Gefängnis und in verschiedene Konzentrationslager verschleppt, zuletzt mit Franz Metz ins KZ Dachau. Wiedermann kam nach vier Wochen jedoch wieder frei.
Es spricht Hohn und macht fassungslos, wenn Tiernamen und Obst Widerstandskämpfern wie Franz Metz und Robert Wiedermann vorgezogen werden. Auch bei ihnen liegen die Anträge 15 Jahre zurück. Das sind bittere Fakten. Und es bleibt die Frage: Was kann „im Nachhinein historisch problematisch werden“? Historisch problematisch ist, dass keine Besinnung und kein Bekenntnis zu demokratischen Werten stattgefunden hat. Und im fehlenden Respekt, Menschen, die sich damals zur Wehr gesetzt und Menschenrechte verteidigt haben, nicht mehr beachtet werden.
Es bleibt die Sorge der Entfremdung der Bürger mit der eigenen Stadtgeschichte und eines großen Image-Schadens für die Stadt. Wann wird Bad Nauheim unter Beteiligung der Bürger endlich mit der Aufarbeitung ihrer Vergangenheit beginnen? Und die Stadtverordnetenversammlung ihrer Funktion als Bürgervertretung gerecht?
Zu meiner Person:
Durch meine Recherchen ist mir das „wissenschaftlich geprägte“ Bad Nauheim ans Herz gewachsen. Der Gebäudekomplex entlang der Usa war und blieb mir lange fremd. Und in der Vorstellung nicht durchschaubar. Eine Bereicherung wäre, würde das Kerckhoff-Institut mit „mehr-Groedel“ die Tore öffnen und offen halten. – Was mich angeht: Die zweite Hälfte meiner achtzig Lebensjahre ist mit dieser Stadt verbunden – oft froh, dass die Kerckhoff-Klinik nicht weit weg ist.
Im Krieg geboren, gelitten in der unmittelbaren Nachkriegszeit und durch den frühen Tod des Vaters, kriegsbedingt in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen und zur Schule gegangen, die gesellschaftliche Aufbruchstimmung der 69er Jahre „tief einatmend“- das waren Zeitläufe, die mir unterschiedlich den Zugang zum Nazi-Regime und den Folgen für gesellschaftliche Entwicklungen eröffneten.
Mehr Fortschritt wagen!
Martin Fink
Bad Nauheim, 06.11.2021
martin_fi@nullgmx.de